Der Dax ist zur Glaubensfrage geworden

„Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos.“ Unsere Börse erinnert mich wieder einmal an den Titel eines 1968 preisgekrönten Spielfilms von Alexander Kluge. Dieses Mal gleich in doppelter Hinsicht, denn es geht ja nicht allein um Ratlosigkeit der Akteure, sondern auch um die räumliche Gefahr für die Artisten, ganz oben, unter der Spitze des Circuszelts – sprich: auf dem höchsten Kursniveau. Ich kann gut verstehen, dass vielen Anlegern jeder Aktienkauf inzwischen wie ein Drahtseilakt vorkommt – aber was wäre die Alternative?

Und dazu Medien, die das unsichere Schaukeln von Dow, Dax & Co. noch verstärken. In einem viel beachteten Wochenbericht kommt zunächst die Warnung vor den politischen Krisenherden, die potenziell negative Auswirkungen auf die Kapitalmärkte haben könnten. Dann wird jedoch zugleichauf Aspekte hingewiesen, die für eine Fortsetzung der mittlerweile fast zwei Jahre andauernden Aufwärtsbewegung an den Aktienmärkten der Industriestaaten sprechen. Ich versuche im Folgenden einmal, die wichtigsten Interpretationen in aller Kürze gegenüber zu stellen.

Beginnen wir mit den monetären Rahmendaten. Während die Strategie der Europäischen Zentralbank klar ist, weil sie bereits weitere liquiditätsfördernde und damit zinssenkende Schritte benannt und in Aussicht gestellt hat, bietet das Vorgehen der amerikanischen Notenbank noch jede Menge Spekulationspotenzial: Wann genau und wie schnell wird die Fed vom „Quantitive Easing“ in die Anhebung der Leitzinsen übergehen? Die Mehrheit der Analysten und Volkswirte bleibt der Ansicht, dass es im1. oder 2. Quartal 2015 so weit sein wird. Je nach Konjunktur- und Inflationsentwicklung ist aber schon frühere Aktion der Federal Reserve denkbar.

Beim Blick auf die fundamentalen Rahmenbedingungen stellen sich viele Detailfragen, deren Beantwortung erst nach und nach erfolgen wird. Entscheidend: Stimmt es wirklich, wie Optimisten behaupten, dass sich die Konjunktur sowohl in Europa als auch in den USA weiterhin relativ robust entwickelt? Wenn Indikatoren laufend aktualisiert, also korrigiert werden, dann gilt für Europa meist das negative Vorzeichen. Enttäuschung im zweiten Quartal, deutsche Industrie zunehmend skeptisch, Frankreich sogar eine große Schwachstelle. Europas Konjunktur bleibt fragil, ist alles andere als robust. Solche Sorgen hat Amerika nicht. Die laufende Berichtssaison zeigt allerdings auf beiden Seiten des Atlantiks ein stark uneinheitliches Ertragsbild der Unternehmen. Zuletzt haben enttäuschende Geschäftszahlen von Konzernen wie LVMH und Danone die Anleger verprellt.

Blicken wir auf die Charts. Skeptiker unter den technischen Analysten sehen die Dax-Charts so gefährdet wie seit langem nicht mehr. Mein Kollege Jochen Appeltauer, Chefredakteur des „boerse.de-Aktienbrief“, beschreibt in der neuen Ausgabe differenzierend die Stärken des Dow und die ersten Schwächeanzeichen unseres Leitindex: „Nach den zuletzt schwächeren Notierungen wird es beim Dax nun

spannend. Einerseits kann schnell ein neuer Angriff auf der Oberseite erfolgen, andererseits liegt jetzt auch der Startschuss für die avisierte Sommerkorrektur in der Luft!“ (Die ausführliche Chartbetrachtung und weitere empfehlenswerte Analysen im „boerse.de-Aktienbrief“ des TM Börsenverlags).

Schließlich die weltpolitischen Faktoren. Sie sind unberechenbar und übernehmen immer wieder das Steuer des Anlegerverhaltens und damit der Kurse – bisher mit wechselnden Vorzeichen. Nur ein unverbesserlicher Optimist wie ich kann auch öffentlich klare Position beziehen: Ich setze auf die Last-Minute-Vernunft der Weltmächte, setze darauf, dass es nach einer Zuspitzung doch nicht zum Ausbruch eines alle Seiten bedrohenden Wirtschaftskriegs oder gar Kalten Kriegs kommen wird.

Strich drunter. Ähnlich wie beim Gold beruht die Prognose für den Aktienmarkt heute nicht mehr auf analytischem Know-how, sondern sie ist eher zur Glaubensfrage geworden. Im Gegensatz zur Mehrheit der Anleger werden Trader und Stock-Picker durchaus ihre Freude an den Schaukelbörsen haben, die vor lauter Unsicherheit überempfindlich auf jede Nachricht reagieren. Für mich sind die Devisenmärkte als Spiegel der Kapitalströme zum Richtungssignal geworden: Europa und der Dax brauchen internationale Kapitalzuflüsse für eine Fortsetzung des langfristigen Aufwärtstrends. Ein immer fester werdender Dollar würde mich nachdenklich stimmen.

Machen Sie weiter mit – und machen Sie’s gut!