Mit breiter Streuung der Unsicherheit begegnen
09.06.24
Die Zinswende ist eingeleitet worden, wie erwartet. Inflation und Geldpolitik bleiben ein Dauerthema. Anleger sollten jetzt aber auch andere Börseneinflüsse stärker beobachten.
Was die EZB jetzt erwartet
Was hat sich an der Ausgangslage verändert? Die Europäische Zentralbank hat in der vergangenen Woche erwartungsgemäß ihre drei Leitzinssätze um jeweils 0,25 Prozentpunkte gesenkt, nachdem sie diese zuvor neun Monate lang unverändert belassen hatte. Die Zinssenkung war von den Ratsmitgliedern inklusive EZB-Präsidentin Christine Lagarde seit Langem verbal vorbereitet worden. Dazu schreiben die Experten der Deutschen Bank: Spannender war die Frage, inwiefern der EZB-Stab seine Prognosen anpassen würde. Die Prognose für die Inflationsraten in den Jahren 2024 und 2025 wurde etwas angehoben, nämlich von 2,3 auf 2,5 und von 2 auf 2,2 Prozent. Für die maßgebliche, um Energie- und Lebensmittelpreise bereinigte Kerninflationsrate wird für 2024 nun ein Anstieg auf 2,8 Prozent prognostiziert. Gleichzeitig erwartet die EZB für 2024 mit 0,9 Prozent ein etwas stärkeres Wirtschaftswachstum als noch im März (0,6 Prozent).
Im Rahmen ihrer Pressekonferenz schloss Lagarde eine weitere Zinssenkung der EZB im Juli zwar nicht explizit aus, sie betonte jedoch, dass die EZB weiterhin datenabhängig agieren werde und dass bei künftigen Sitzungen, in denen es alle drei Monate neue Prognosen des EZB-Stabes gebe, mehr Daten zur Verfügung stünden. Dies schließt eine weitere Zinssenkung vor September praktisch aus.
Was jenseits der Geldpolitik zu erwarten ist
Nach meiner Einschätzung sollten Sie, geschätzte Anleger, jetzt andere für das Börsengeschehen relevante Entwicklungen genauer beobachten und stärker gewichten – insbesondere die nationalen und geopolitische Ereignisse. Die Vordenker von Allianz
Global Investors haben solche Aspekte nach dem Motto „ Jenseits der Geldpolitik“ zusammengetragen. Daraus einige Auszüge: Es gibt noch viele andere beachtenswerte Entwicklungen, hinter denen sich auch Investmentchancen verbergen könnten:
Europa dürfte in den nächsten Wochen viel Aufmerksamkeit erhalten – nicht nur von Fußballfans. Auch für Anleger könnte der „alte Kontinent“ wieder interessant werden. Der Eurozone die Zinssenkungsfantasie helfen. Darüber hinaus scheint die konjunkturelle Talsohle in den meisten Ländern durchschritten – vor allem Sentiment- und Frühindikatoren verbessern sich wieder. Eine Bodenbildung bei den Auftragseingängen aus dem Ausland freut die Exporteure. Für Aufmerksamkeit dürfte zudem die Europawahl sorgen. Die kurzfristigen Auswirkungen für die Märkte sollten sich in Grenzen halten, für das längerfristige Bild werden vor allem die Entwicklungen bei den Haushaltsregeln sowie der Wettbewerbs- und Handelspolitik wichtig.
Fantasie für China
In China verstärkt die politische Führung ihre Anstrengungen gegen die andauernde Krise auf dem Immobilienmarkt. Dabei geht es vor allem darum, die Bestände unverkaufter und teilweise unvollendeter Wohnungen zu verringern. Für diese sollen zunächst neue Käuferschichten erschlossen werden, weshalb man vielerorts die Regularien rund um den Immobilienkauf merklich lockert, beziehungsweise die Hypothekenzinsen senkt. Gleichzeitig sollen die Lokalregierungen über verschiedene Vehikel Wohnungsbestände aufkaufen und dabei auf Finanzierungshilfen der Zentralregierung oder der Zentralbank zurückgreifen können. Rund 4 % des chinesischen Bruttoinlandsprodukts könnten mobilisiert werden. Diese Nachrichten, in Kombination mit Stützungsmaßnahmen für die Aktienmärkte, haben den gebeutelten Aktienbörsen in Hong Kong und Shanghai wieder Leben eingehaucht.
Und der Rohstoffsektor (neben Gold und Silber)? Ein mittelfristig begrenztes Angebot, strukturell stetig steigende Nachfrage in Sachen Elektrifizierung sowie die verbesserten Konjunkturdaten u.a. aus China haben den Kupferpreis auf Rekordhöhen gehoben. Auch andere Industriemetalle haben sich zuletzt verteuern können. Dies ist grundsätzlich ein Zeichen, dass die Weltwirtschaft ordentlich voranschreitet – die Investmentexperten denken, dass die globale Wirtschaft derzeit in der Nähe ihres Potentials, also entlang ihrer normalen Auslastung, wächst. Das bedeutet aber auch, dass Inflationsbekämpfung ohne Nachfragedämpfung schwierig bleiben wird.
Regionale Verbreitung des Aktiendepots
Das derzeit vorherrschende Umfeld einer robusten Wirtschaftsentwicklung, eines unsicheren Zinsausblicks, und einiger Investmentchancen abseits der ausgetretenen Pfade legt folgende taktische Allokation für Aktien und Anleihen, sowie Währungen nahe: Die Aktienmärkte dürften geringere oder verspätete Zinssenkungen verkraften, solange diese hauptsächlich durch robuste Nachfrage (wie in den USA)
beziehungsweise durch ein sich verbesserndes Wachstumsumfeld (wie in Europa und China) veranlasst sind. Belastend wäre dagegen ein Szenario hartnäckiger Inflation bei sich gleichzeitig abflachendem Wachstum – das erscheint aber vorerst unwahrscheinlich. Eine regionale Verbreiterung des Wachstums jenseits der USA könnte den Aktienmarkt auf breitere Füße stellen. Vernachlässigte Märkte wie China oder der britische FTSE-100 Index haben in den letzten Wochen eine Aufholbewegung gestartet. Gleiches würde auch sektoral gelten. Eine Verbreiterung des Wachstums, beispielsweise durch steigende Auftragseingänge im Verarbeitenden Gewerbe Europas oder Asiens, dürfte die Abhängigkeit der Börsen vom US-Technologiesektor verringern.
Anleiherenditen nur begrenzt interessant
Die Anleihemärkte waren zuletzt hin und hergerissen, je nach Interpretation, ob die hereinkommenden Daten eher für oder gegen Zinssenkungen sprechen. Eurozonen-Anleihen im mittleren Laufzeitenbereich bieten positive, aber nicht wirklich attraktive Realrenditen. Sie sind vor allem als Absicherung gegen einen Konjunkturabschwung interessant. Kredit-Spreads von Unternehmensanleihen bieten historisch geringe Risikoprämien gegen Ausfallrisiken, kombiniert mit nahezu ausfallsicheren Staatsanleiherenditen scheinen sie aber für viele Anleger ausreichend einträgliche Gesamtrenditen zu bieten.
Latente Kriegsgefahr im Hintergrund der Börsen
Unterm Strich spricht in meinen Augen alles für einen eher uneinheitlichen Börsenverlauf in der zweiten Jahreshälfte. Die weitere Zuspitzung des Ost-West-Konflikts ist eine latente Gefahr auch für den Aktienmarkt. Längerfristig wird uns alle die Entwicklung der Demokratie beschäftigen – was bedeuten Schlagworte wie Zeitenwende und Welt im Umbruch? Cash, Gold und Industriemetalle können für Sie, liebe Leser, Kernelemente eines weitsichtigen Portfolios bilden, wenn Sie besonders vorsichtig investieren wollen.