11.01.15
„Flash
Boys – Revolte an der Wall Street“
Schon seit vielen Jahren beschäftige
ich mich in Vorträgen und Artikeln mit den grundlegenden
Veränderungen der Börsenlandschaft als Folge von Digitalisierung
und globaler Vernetzung. Motto: Börse ist nicht mehr Börse. Gerne
zitiere ich dabei aus dem 2014 auch in Deutsch erschienenen
spektakulären Buch „Flash Boys – Revolte an der Wall Street“
von Michael Lewis. Warum es geht, macht der Wirtschaftsjournalist und
Bestsellerautor schon in seinem Vorwort deutlich. Da ich immer wieder
großes Interesse an diesem Thema spüre, veröffentliche ich hier
mit freundlicher Genehmigung des Campus Verlags aus „Flash Boys“
den Prolog „Ein Fenster zur neuen Finanzwelt“. Hermann
Kutzer.
Die Idee zu diesem Buch kam mir
vermutlich schon, als ich zum ersten
Mal von Sergey Aleynikov hörte.
Aleynikov war ein russischer
Programmierer, der für Goldman Sachs
gearbeitet und im Frühjahr
2009 gekündigt hatte, um wenig später
verhaftet und angeklagt
zu werden, weil er angeblich
Computerprogramme von Goldman
Sachs gestohlen hatte. Ich wunderte
mich ein wenig, dass der einzige
Goldman-Mitarbeiter, der nach der
Finanzkrise vor Gericht
gestellt wurde, ausgerechnet jemand
war, der etwas von Goldman
Sachs gestohlen haben sollte, und das,
obwohl diese Bank in der Finanzkrise
eine ganz entscheidende Rolle gespielt
hatte. Noch mehr
wunderte ich mich, als die
Staatsanwaltschaft den russischen Programmierer
vor Prozessbeginn nicht gegen eine
Kaution auf freien
Fuß setzte, weil sie behauptete, die
Programme von Goldman Sachs
ließen sich zur Manipulation der
Märkte missbrauchen, wenn sie in
die falschen Hände gerieten. (Und bei
Goldman Sachs waren diese
Programme in den richtigen Händen?
Wenn Goldman Sachs die
Märkte manipulieren konnte, dann waren
doch sicher auch andere
Banken dazu in der Lage.) Am meisten
wunderte ich mich jedoch
darüber, dass kaum jemand erklären
konnte, was der Russe eigentlich
getan hatte. Nicht nur, was er
verbrochen hatte, sondern was er
überhaupt bei Goldman Sachs getan
hatte, also worin seine Tätigkeit
bestanden hatte. Er wurde meist als
„Programmierer für Hochfrequenzhandel“
bezeichnet, doch das sagte niemandem
etwas. Im
Sommer 2009 hatte selbst an der Wall
Street kaum jemand von
diesen Geschäften gehört. Was bitte
schön war Hochfrequenzhandel?
Und warum waren die Programme, die
Goldman Sachs dazu
verwendete, so wichtig, dass ein
Mitarbeiter, der sie kopiert hatte,
hinter Gitter gebracht werden musste?
Warum waren diese Programme
derart wertvoll und gefährlich für
die Finanzmärkte? Und
wie kamen sie überhaupt in die Hände
eines Russen, der erst seit
zwei Jahren für Goldman Sachs
arbeitete?
Also machte ich mich auf die Suche nach
Leuten, die mir diese
Fragen beantworten konnten. Meine Suche
endete in einem Raum
mit Blick auf die Baustelle des World
Trade Center, im Hochhaus
One Liberty Plaza. In diesem Raum fand
sich eine kleine Armee
erschreckend gut informierter Leute aus
allen Winkeln der Wall
Street ein – von Banken, Börsen und
Hochfrequenzhandelsfirmen.
Viele dieser Leute hatten ihre hoch
dotierten Jobs gekündigt, um
der Wall Street den Krieg zu erklären,
und das bedeutete für sie
vor allem, genau das Problem zu
bekämpfen, das der russische Programmierer
im Auftrag von Goldman Sachs in die
Welt gebracht
hatte. Und ganz nebenbei waren sie
Experten in genau den Fragen,
auf die ich Antworten suchte – ganz
zu schweigen von zahllosen
anderen Fragen, an die ich gar nicht
hatte denken können. Und
diese Fragen erwiesen sich als weit
spannender, als ich es mir in
meinen kühnsten Träumen ausgemalt
hatte.
Zu Beginn meiner Laufbahn hatte ich
mich kaum für die Börse
interessiert, auch wenn ich wie die
meisten anderen Menschen
gern dabei zusah, wie sie boomte und
wieder abstürzte. Als sie am
19. Oktober 1987, dem Schwarzen Montag,
ins Bodenlose fiel, hielt
ich mich zufällig im 40. Stock von One
New York Plaza auf, der
Aktienabteilung meines damaligen
Arbeitgebers Salomon Brothers.
Das war hochinteressant. Wenn Sie
jemals einen Beweis dafür haben
wollten, dass auch die Insider der Wall
Street keine Ahnung haben,
was an der Börse vor sich geht, dann
hätten Sie ihn an diesem Tag
bekommen können. Eben herrschte noch
eitel Sonnenschein, im
nächsten Moment war der Dow Jones um
22,61 Prozent abgestürzt,
und keiner wusste, warum. Während die
Kurse fielen, gingen einige
Händler einfach nicht mehr ans
Telefon, um zu verhindern, dass
ihre Kunden noch mehr Aktien auf den
Markt warfen. Es war nicht
das erste Mal, dass sich die Wall
Street in Misskredit brachte, doch
diesmal reagierten die Behörden und
änderten die Spielregeln: Von
nun an sollten Computer die
unzuverlässigen Mitarbeiter ersetzen
können. Mit dem Börsencrash des
Jahres 1987 begann eine Entwicklung,
die ganz allmählich Fahrt aufnahm und
an deren Ende
der Computer den Menschen vollständig
ersetzt hatte.
Im Laufe der vergangenen zehn Jahre
haben sich die Finanzmärkte
rasant verändert, doch unsere
Vorstellung hat nicht mit
dieser Revolution Schritt gehalten. Die
meisten Menschen denken
beim Stichwort »Börse« nach wie vor
an Bildschirme mit Kurstickern
und an das Börsenparkett mit
fuchtelnden und schreienden
Alphamännchen. Dieses Bild ist
veraltet, diese Welt gibt es
längst nicht mehr. Seit 2007 schreit
niemand mehr auf dem Parkett
herum. An den Börsen arbeiten zwar
noch Menschen, aber
sie sind weder die Herren des
Finanzmarkts, noch haben sie einen
privilegierten Einblick in die Märkte.
Heute findet der Aktienhandel
in einer Black Box statt, genauer
gesagt in Hochsicherheitsgebäuden
in New Jersey und Chicago. Was in
dieser Black Box vor
sich geht, ist schwer zu sagen – der
Ticker, der am unteren Rand
des Bildschirms entlangläuft, erfasst
jedenfalls nur einen winzigen
Bruchteil des Börsengeschehens. Über
das, was in der Black Box
passiert, dringen nur sehr
unzuverlässige Berichte an die Öffentlichkeit
– selbst Experten haben kaum eine
Vorstellung vom Was,
Wie und Warum. Und der
durchschnittliche Anleger ist vollkommen
ahnungslos. Er loggt sich einfach in
sein Konto bei TD Ameritrade,
E*trade oder Schwab ein, gibt die
Abkürzung einer Aktie
ein und klickt auf „Kaufen“. Und
dann? Vielleicht meint er ja zu
wissen, was dann passiert, doch
vermutlich täuscht er sich gründlich.
Denn wenn er es wüsste, würde er es
sich zweimal überlegen,
ehe er auf „Kaufen“ klickt.
Wir halten uns gern an das alte Bild
des Aktienmarkts, weil es
so tröstlich ist, weil wir uns kein
konkretes Bild von dem neuen
Aktienmarkt machen können und weil die
wenigen Menschen,
die uns verraten könnten, was dort vor
sich geht, kein Interesse
an unserer Aufklärung haben. Dieses
Buch ist ein Versuch, dieses
Bild zu zeichnen. Das Bild setzt sich
aus einer Reihe von Puzzleteilen
zusammen: von der Wall Street nach der
Krise, von neuen
Finanztricksereien, von unpersönlichen
Computern, die zu Dingen
verwendet werden, von denen selbst die
Programmierer keine
Ahnung haben, und von Menschen, die mit
bestimmten Erwartungen
an die Wall Street kamen, nur um
festzustellen, dass sie
ganz anders tickt, als sie angenommen
hatten. Einer dieser Menschen,
ausgerechnet ein Kanadier, steht im
Mittelpunkt dieses Bildes
und fügt die verschiedenen Puzzleteile
zusammen. Ich staune
noch immer über die Bereitwilligkeit,
mit der er mir ein Fenster
zur neuen amerikanischen Finanzwelt
aufstieß und mir zeigte, wie
sie wirklich funktioniert.
Genauso staune ich über den
Programmierer, der verhaftet
wurde, weil er Programme von Goldman
Sachs entwendet haben
soll. Bei Goldman Sachs hatte Sergey
Aleynikov seinen Arbeitsplatz
in der 42. Etage von One New York
Plaza, dort, wo einst die
Händler von Salomon Brothers saßen,
zwei Stockwerke über dem
Schreibtisch, von dem aus ich einst den
Börsencrash mitverfolgte.
Genau wie ich damals verspürte er
wenig Lust, in dem Gebäude
zu bleiben, und verließ Goldman Sachs
im Sommer 2009, um anderswo
sein Glück zu suchen. Am 3. Juli 2009
saß er in einem
Flugzeug, das ihn von Chicago nach
Newark, New Jersey, bringen
sollte, und ahnte weder, welche Rolle
er in den vergangenen Jahren
gespielt hatte, noch, was ihn bei
seiner Ankunft am Flughafen erwartete.
Genauso wenig wusste er, wie hoch
inzwischen in dem
Finanzspiel gepokert wurde, das er für
Goldman Sachs aufgezogen
hatte. So seltsam das klingt – um die
Dimensionen zu verstehen,
hätte er einfach aus dem Fenster
seines Flugzeugs hinunter auf die
amerikanische Landschaft blicken müssen.
Michael Lewis „Flash
Boys - Revolte an der Wall Street“, Campus Verlag, 2014, 288
Seiten; ISBN 978-3-593-50123-9