20.12.16
Vorsicht
beim Blick auf die Vergangenheit!
Von GUIDO BALTUSSEN
Zu einem Großteil bestimmen die
Erträge der Vergangenheit unsere Anlageentscheidungen für die
Zukunft. Dies ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der jüngeren
Behavioral-Finance-Forschung. Doch dieser sogenannte „Extrapolation
Bias“, also das Fortschreiben der Vergangenheit, ist nicht ohne
Tücke und könnte sich am Ende als Fallstrick erweisen.
Psychologische Studien haben gezeigt,
dass unser Entscheidungsprozess auf dem Zusammenspiel von zwei
Gehirnregionen beruht, der intuitiven Gehirnhemisphäre und der
kognitiv-reflektiven Hemisphäre. Erstere Region – von Psychologen
auch System 1 genannt – hat tendenziell mehr Einfluss und ist
stets, wenn auch oft unbewusst, aktiv. Mit anderen Worten: All unsere
Entscheidungen erfolgen zum Teil intuitiv. Gerade bei
Anlageentscheidungen führt das zu vorhersehbaren Fehlentscheidungen,
auch als „Behavioral Bias“ bezeichnet.
Einer der hervorstechendsten und
markantesten Behavioral Biases ist der Extrapolation Bias, der uns
dazu verleitet, die Trends der jüngsten Vergangenheit in
übertriebenem Maße in die Zukunft fortzuschreiben. Das lässt sich
an folgendem Beispiel illustrieren: Marc ist außerordentlich fit und
athletisch, ein gut aussehender junger Mann mit attraktiver Freundin
und teurem italienischen Sportwagen. Welches Szenario ist wohl
wahrscheinlicher?
A) Marc spielt Fußball in der
Bundesliga.
B) Marc ist Krankenpfleger.
Aus der psychologischen Forschung
wissen wir, dass die meisten Menschen A) für die wahrscheinlichere
Variante halten. Und das, obwohl es mehr Krankenpfleger als
Bundesligaspieler gibt! Warum halten wir Szenario A) also für
wahrscheinlicher? Weil unsere Erwartungen häufig darauf beruhen, wie
repräsentativ die Antworten unserer Meinung nach für die
Beschreibung sind (wonach Marc instinktiv als Bundesligaspieler
wahrgenommen wird) und weniger auf den Gesetzen der Statistik.
Dieses Phänomen wird als
Repräsentativitätsheuristik, also eine Urteilsentscheidungsregel,
bezeichnet, wonach wir in beliebigen Abläufen Muster wahrnehmen. Das
lässt sich beispielhaft an zehn Münzwürfen verdeutlichen. Welche
Folge halten Sie für wahrscheinlicher? (Notieren Sie sich Ihre
Antwort.)
A)
Kopf-Zahl-Kopf-Zahl-Zahl-Kopf-Kopf-Zahl-Zahl-Kopf
B)
Kopf-Kopf-Kopf-Kopf-Kopf-Zahl-Zahl-Zahl-Zahl-Zahl
Die meisten Menschen halten A) für
wahrscheinlicher als B). Sie auch? Tatsächlich sind beide Varianten
gleich wahrscheinlich. Warum neigen wir dazu, das Gegenteil zu
glauben? Variante A) scheint die Zufälligkeit des Münzwurfs besser
zu repräsentieren. Variante B) scheint dagegen nicht repräsentativ
für einen zufälligen Ablauf. Denn wie sonst kann sich bei einem
völlig zufälligen Ablauf eine klare Trendfolge abzeichnen? Nach der
Repräsentativitätsheuristik nehmen wir ein Muster als zufällig
wahr, wenn es uns als repräsentativ für eine zufällige Abfolge
erscheint.
Psychologen gehen einen Schritt weiter.
Eine von den Psychologen Gilovich, Vallone und Tversky (1985)
durchgeführte Studie1 bestätigte die menschliche Neigung,
Zufallsabfolgen als Trends wahrzunehmen. Mit anderen Worten: Wir
sehen Trends, wo gar keine sind. Das bedeutet, dass wir Resultate
über relativ kurze Zeiträume der jüngeren Vergangenheit
zuschreiben: der Extrapolation Bias.
Dieser Extrapolation Bias wirkt sich in
erheblicher Weise auf unsere Investmententscheidungen aus. Er
bedeutet unter anderem, dass sich unsere Erwartungen an die künftigen
Erträge der verschiedenen Anlageformen (darunter beispielsweise auch
Aktien und Publikumsfonds) auf die in der jüngeren Vergangenheit
erzielten Erträge stützen. So lassen sich gute Aktiengewinne in
letzter Zeit mühelos in positive Erwartungen für die künftigen
Erträge dieser Aktien ummünzen. Dies gilt auch im Umkehrfall:
Schlechte Erträge in jüngerer Zeit bedeuten geringe Erwartungen an
künftige Erträge. Tatsächlich lässt sich ein solches Verhalten in
zahlreichen gängigen Umfragen zum Anlegerverhalten nachweisen. So
wies der American Association of Individual Investors US Investor
(AAII) Sentiment Index kürzlich weitaus optimistischere Werte aus,
als Aktien in letzter Zeit sehr viel bessere Erträge abwarfen. Die
aktuelle Zuversicht unter Investoren ist also größtenteils auf die
mit den Erträgen der letzten Monate gestiegenen Erwartungen
zurückzuführen.
Folglich bestimmen die Erträge der
Vergangenheit unsere Anlageentscheidungen für die Zukunft. Ist das
vernünftig? Der Extrapolation Bias bedeutet, dass wir dazu neigen,
Trends zu folgen. Tendieren die Märkte aufwärts, ist das für die
Portfolioerträge tendenziell günstig. Doch erliegen wir dem
Extrapolation Bias nicht nur in Zeiten steigender Märkte, sondern
auch wenn die Märkte fallen. In solchen Phasen kann uns der
Extrapolation Bias teuer zu stehen kommen.
Darüber sollten Sie sich bei Ihren
Anlageentscheidungen bewusst sein. Orientieren Sie sich bei Ihren
Entscheidungen nicht zu sehr an der Vergangenheit. Lassen Sie die
Vergangenheit also Vergangenheit sein und stützen Sie Ihre
Entscheidungen stattdessen auf neutrale Faktoren.
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Der Autor: Guido Baltussen ist Head of
Quantitative Research & Strategy Fixed Income and Multi Asset bei
NN Investment Partners sowie Associate Professor an der Erasmus
University Rotterdam.