Haben Börsianer eine gute Nase – oder sind sie farbenblind?

07.05.20

Obwohl ich langfristig bullisch bleibe, werde ich das Gefühl nicht los, dass viele Börsianer die aktuellen Risiken nicht angemessen einschätzen. Warum auch immer (wg. Geldpolitik und mangelnden Alternativen?). Die Kursentwicklung spiegelt eine gehörige Portion Optimismus wider, welcher durch das Ende der Lockdown-Phase bei uns und in vielen anderen Ländern offenbar bestätigt wird. Das ist verfrüht. Gleichzeitig fällt auf, dass miserable Wirtschaftsnachrichten von den Marktteilnehmern weitgehend ignoriert werden. Und Berichte über einen sich wieder zuspitzenden politischen und Handelskonflikt USA-China beeindrucken den Markt bisher nicht nachhaltig – immerhin sehen neutrale Beobachter mittlerweile Signale, dass sich China auf eine harte Konfrontation mit Amerika vorbereitet.



Als Mitglied der riesigen Bundesliga-Fan-Gemeinde bin ich natürlich froh, dass der Ball nächste Woche wieder rollt. Aber ist die neue Ifo-Statistik nicht noch wichtiger? Wie die Münchner Forscher heute berichten, erwartet die deutsche Industrie einen noch nie dagewesenen Einbruch ihrer Produktion! Der entsprechende Index für die kommenden drei Monate ist im April von minus 21,4 auf minus 51,4 Punkte gestürzt. Das ist der tiefste Punkt seit der Wiedervereinigung. Kommentiert das Institut: „Das Tal der Produktion wird immer tiefer.“ Nur die Hersteller von pharmazeutischen Erzeugnissen (= meine Börsenfavoriten) blicken optimistisch in die Zukunft.

Zugegeben, es kommen auch von prominenten Profis warnende Stimmen. So schreibt mir ein internationaler Stratege, das Vertrauen der Märkte in positive Nachrichten über das Coronavirus erscheine zu optimistisch. Es bestehe ein erhebliches Risiko, dass die Öffnung der Wirtschaft viel langsamer vonstattengehen wird, als viele Menschen glauben. Aber gleich wird nahende Zuversicht angefügt: „Wir erwarten jedoch, dass die Talsohle im zweiten Quartal dieses Jahres erreicht wird, gefolgt von einer deutlichen Verbesserung der Unternehmensgewinne in der zweiten Jahreshälfte.“ Nein, das sehe ich noch nicht so, sondern bleibe skeptisch. Andere Strategen sehen die jüngste Erholung der Aktienkurse in einem direkten Zusammenhang mit der beispiellosen weltweiten geld- und fiskalpolitischen Reaktion. Hinzu kommt die Furcht vieler Marktteilnehmer, etwas zu verpassen. Die Finanzgeschichte meinte es jedoch mit frühen Rückkehrern an die Märkte nicht immer gut.

Schließlich: Ist es denn wie eine grüne Ampel für die Börse, wenn deutsche Top-Volkswirte in einem gemeinsamen Aufruf für ein nachhaltiges Investitionsprogramm gegen die Corona-Rezession werben? Begründung: „Die deutsche Wirtschaft braucht einen starken staatlichen Impuls, um möglichst rasch aus der von der Corona-Krise verursachten tiefen Rezession zu kommen und auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu gelangen”, heißt es in dem am Donnerstag veröffentlichten Konzept. Das staatliche Engagement sei nötig, weil sonst der wirtschaftliche Schock, vergleichbar mit den 1930er Jahren, eine wirtschaftliche Normalisierung dauerhaft blockieren könnte – mit gravierenden Folgen für die gesamte Gesellschaft!

Mich würde es nicht wundern, wenn sich der Dax nach alldem erst einmal verkriechen würde.