Bei der Aktienauswahl lieber Top-down als Bottom-up

30.06.20

Wissen wir nach den jüngsten Entwicklungen und Lageberichten wirklich (entscheidend) mehr über die Folgen der Pandemie und ihre weiteren Einflüsse auf die Weltwirtschaft? Die Formulierung der Frage impliziert schon den Zweifel. Trotzdem vorab meine mutige (selbstironische) Börsenprognose für den Rest des Jahres: Es bleibt kompliziert! Im Ernst: Wer gerade jetzt entscheiden will, ob er Aktien kaufen oder verkaufen sollte, hat es nach dem steilen Ab und Auf gewiss nicht leicht. Deshalb ist auch das Erst-einmal-nichtstun eine Option.



Warum der Blick nach vorn selbst institutionellen Großanlegern schwer fällt, macht schon das Fazit der wöchentlichen Stimmungsumfrage an der Börse Frankfurt deutlich: Weiterhin gilt, dass die einst im März begonnene Rally des Dax noch nicht beendet ist, aber sich in einer Korrekturphase mit kurzlebigen, mitunter auch kräftigen Impulsen befindet, deren Fortsetzung abhängig ist von Informationen zur Pandemie oder neuen Entwicklungen im US-chinesischen Handelskonflikt. Und was ökonomische Nachrichten angeht, werden derzeit positive Tendenzen von den Marktteilnehmern stärker als negative Informationen wahrgenommen.

Zudem hinterlässt der desaströse Fall Wirecard börsenhistorische Spuren und veranlasst Investmentprofis zu grundsätzlichen Strategieempfehlungen an Privatanleger. Das beginnt mit dem unspektakulären Rat, die Spreu vom Weizen zu trennen (was gar nicht so einfach ist). Aber wie hoch ist der Schaden beim Absturz einer einzelnen Aktie im Portfolio? Kritisiert ein namhafter Vermögensverwalter: Wer es zulässt, dass eine einzelne Aktie einen hohen Einfluss auf die Gesamtrendite des Portfolios nehmen kann, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass die Risikodiversifikation vernachlässigt wurde. Natürlich ist man in der Rückschau immer klüger, es hätte ja auch gut gehen können.

Es ist kein neues Problem, beklagen die Strategen, dass viele Aktienanleger nicht bereit sind, in der gesunden Mitte zu investieren. Das heißt: global aufstellen, nicht zu viel Portfoliogewicht auf einzelne Positionen legen, eine nachhaltige Strategie entwickeln und auch langfristig dieser Marschroute treu bleiben. Ganz ehrlich: Von Begriffen wie „gesunde Mitte“ halte ich nicht viel. Damit werden die ganz unterschiedlichen Charaktere und Zielsetzungen individueller Anleger verwischt (was auch den Anlagehorizont betrifft).

Darüber hinaus sei an die alte Expertendiskussion über ein strategisches Prinzip erinnert: Was ist besser – von „unten nach oben“ oder „von oben nach unten“? Viele Anleger praktizieren den Bottom-Up-Ansatz und sind nicht selten auf der Suche nach dem ganz großen Wurf. Wer hätte nicht gerne die nächste Amazon-Aktie in einem frühen Stadium im Depot? Aus der Sicht eines Top-Down-Investors zählt dagegen zunächst die richtige Wahl der Anlageklasse. Das sehe ich auch so, benutze aber den Plural. Denn Chancen und Risiken sinnvoll zu verteilen, heißt heutzutage über eine einzige Anlageklasse hinweg zu investieren – beispielsweise in mein altes „Dreigestirn“ Aktien – Gold - Immobilien.

Wer mit Stockpicking oder spekulativen Einzelinvestments bisher aber beste Resultate verbuchen kann, wird sicher weiter für sein Bottom-up plädieren. Deshalb weise ich auf meine Sowohl-als-auch-Philosophie hin, die ich in allen Lebenslagen gegenüber dem Entweder-oder bevorzuge. Und sollten Sie einmal voll auf die Nase fallen (wie mit Wirecard) – verbuchen Sie das am besten unter „wichtige Erfahrungen“ für weitere Kapitalanlagen. Ein sicheres Patentrezept für jedermann kann es nicht geben. Übrigens: Bezogen auf die Kursentwicklung wäre Bottom-up natürlich zu favorisieren (unten gekauft, oben verkauft).