Zwischen Wall Street und Main Street

 13.08.20

Übertreiben die Börsen nach oben oder setzt sich die wirtschaftliche Erholung jetzt tatsächlich durch? Es fällt auf, wie intensiv (und mitunter schon intellektuell) das grundsätzliche Verhältnis zwischen Kursen und Konjunkturen diskutiert wird – natürlich mit den aktuellen Erfahrungen. Beide Lager haben gute Argumente, wenn es um die Kluft zwischen Wall Street und Main Street geht. „Wall Street steht in diesem Zusammenhang symbolisch für die vermeintlich zu hoch gestiegenen Aktienindizes, während die Main Street tagtäglich mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der globalen Covid-19-Pandemie zu kämpfen hat“, erklärt Christian Schmitt, Senior Portfolio Manager bei Ethenea.

Seit Beginn der Krise rund um das Corona-Virus fällt es Anlegern zunehmend schwer, die fundamentale, globale Wirtschaftslage richtig zu bewerten, lese ich in einem frischen Kommentar von Grüner Fisher Investments. Die entstandene Unsicherheit zur weiteren Entwicklung und dauerhaft hohe Infektionszahlen in verschiedenen Regionen der Welt sorgen häufig für ein Gefühl der Abkopplung steigender Aktienmärkte von der Realität.

Ohne auf die Pros und Cons näher einzugehen – es überrascht nicht, wenn am Ende die Sympathie für den Aktienmarkt steht. Formulierungen, in den die „Vernunft“ der Börse zum Ausdruck gebracht wird, kann ich aber nicht teilen. Interessanter, weil wichtiger, ist der Faktor Zeit für die Märkte. Und den muss man aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Die Märkte preisen die künftigen Entwicklungen (von mehreren Monaten bis etwa zwei Jahre) ein – besser gesagt: Sie versuchen es. Sie vergleichen dabei wahrscheinliche Entwicklungen mit der aktuell bestehenden Erwartungshaltung. Sie laufen der Wirtschaft also voran, was insbesondere in Zeiten einer auftretenden Rezession besonders deutlich wird. Schaut man über den kurzfristigen Tellerrand hinaus, so zeigt sich eine positivere Zukunft.

Das ist auch jetzt eines der ausschlaggebenden Argumente der Börsen-Bullen: Mit der aktuellen Zahlensaison bestätigt sich ein Trend, den die Börse bereits seit dem Tiefpunkt im März einpreist. Die wirtschaftliche Aktivität kehrt zurück. Nachdem nun durch traditionelle, allgemein anerkannte Daten wie die Industrieproduktion, Einzelhandelsumsätze oder Einkaufsmanagerindizes eine Bestätigung der fundamentalen Erholung sichtbar wurde, sind die positiven Meldungen der Unternehmen das letzte fehlende Puzzleteil für eine Art Beweisführung, dass die aktuelle Entwicklung an der Börse eine fundamentale Grundlage besitzt. Wer seit Beginn der Erholungsbewegung im „Pessimismus des Unglaubens“ festsitzt, wird die dynamischen Kurssprünge nach oben jedoch verpasst haben.

Dennoch sollten zwei Aspekte bei der Gesamteinschätzung nicht zu kurz kommen: Die Einflüsse von Digitalisierung und Globalisierung führen zu einer erheblichen Beschleunigung von Handel und Anlage. Das wiederum erschwert die Einordnung aktueller Markttendenzen. Damit verbunden ist das mit dem Herdentrieb vergleichbare Verhalten professioneller Trader und Investoren – Kurzfristigkeit ist Trumpf.

Die verbreitete Sorge vor einer zweiten Pandemie-Welle durch die jüngste Entwicklung der Infektionszahlen ist so etwas wie die Bedrohung der Wall Street durch die Main Street. Die Konzentration auf betont langfristige Investmentstrategien ist gerade am Aktienmarkt die sicherste Antwort auf das aktuell noch unsichere wirtschaftlich-politische Umfeld der Börsen.