Ist das Plädoyer für Europas Aktien berechtigt?

 16.05.21

Hinter den Headlines von Kommentaren zur Börse finden Sie, geschätzte Anleger, oft ein Fragzeichen. Zu oft. Aber es ist nachvollziehbar. Denn der Inhalt beschreibt ja in aller Regel einen Blick in die Zukunft – und die ist ungewiss. Hier und heute soll das Fragezeichen aber vor allem meine Zweifel an der Einschätzung prominenter Experten zu den Perspektiven europäischer Aktien signalisieren.

Seit langem ärgern mich die zunehmenden Disharmonien – politisch und wirtschaftlich – in der alten Welt, die immer noch den Begriff „Gemeinschaft“ pflegt. Der Brexit ist einer der Tiefpunkte. Dass die internationalen Investoren intensiver denn je die beiden Pole USA und China fokussieren (und Europa vernachlässigen), ist keine Überraschung. Jetzt melden sich Strategen mit anderer Meinung.

„Europa, eine Region mit hohem Potenzial“, überschreibt das französische Investmenthaus Metropole Gestion eine interessante Analyse, unter anderem mit folgenden Argumenten: Europa leidet unter einer Reihe von Nachteilen, die zum Teil für strukturell bedingt gehalten werden und die Finanzwelt am Potenzial der Region für eine Erholung nach der Krise zweifeln lassen. Die Kritikpunkte sind zahlreich: eine langsame und chaotische Impfkampagne, ein nur mühsam umgesetztes europäisches Konjunkturprogramm, ein fast dauerhaftes Klima politischer Instabilität, eine alternde Bevölkerung und Unternehmen, die sich mit übermäßig komplexen und restriktiven Vorschriften konfrontiert sehen. Dies lässt Europa gegenüber den USA, die schneller und stärker aus der Krise kommen, vergleichsweise blass aussehen.

Aus Anlegersicht bietet der europäische Aktienmarkt jedoch paradoxerweise bessere Aussichten, da er gleichzeitig auch über zahlreiche Vorteile verfügt: Da ist zunächst die Qualität seiner Unternehmen, die angesichts dieser Krise eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit bewiesen haben und trotz eines noch nie dagewesenen Einbruchs ihrer Geschäftstätigkeit eine gesunde Finanzstruktur und robuste Rentabilität vorweisen können. Wenn wir etwas weiter in die Zukunft blicken als nur bis zu der wirtschaftlichen Erholung, die sich nach der Gesundheitskrise einstellen wird, so lässt sich feststellen, dass die europäischen Unternehmen den nächsten Wirtschaftszyklus, in dem die Energiewende einer der wichtigsten Wachstumstreiber sein wird, mit einem beträchtlichen Vorsprung in Angriff nehmen werden. Unter dem Druck besonders strenger europäischer Umweltauflagen nehmen sie radikale Veränderungen vor, durch die sie mittelfristig entscheidende Wettbewerbsvorteile erzielen werden. Einverstanden, aber das sind wirklich langfristige Chancen für die Aktienfans.

Zum Aspekt der Kursentwicklung gibt es jetzt ebenfalls ein Plädoyer pro Europa: Die Bewertung der europäischen Aktienmärkte aktuell als hoch zu bezeichnen, hält Edgar Walk, Chefvolkswirt Metzler Asset Management, für „Blödsinn“. Im Gegensatz zum US-amerikanischen Markt war die Wertentwicklung europäischer Aktien in den vergangenen Jahren ziemlich schwach; der Kurs des MSCI Europa hat Ende April

etwa 40 % unter seinem langfristigen Trend gelegen. In Amerika sind die Aktienkurse des MSCI USA schon im vergangenen Jahr über das Niveau des langfristigen Trends gestiegen und erreichten bis Ende April sogar eine Abweichung von mehr als 20 %. Amerikanische Aktien scheinen also hoch bewertet zu sein. Ob es sich dabei schon um eine Blase handelt, ist laut Walk offen für eine Diskussion. In Europa dagegen deutet die Kursperformance derzeit nicht auf eine Blasenbildung hin. Kein Fragezeichen meinerseits.

Dennoch bleibe ich bis auf Weiteres ein Europa-Skeptiker, auch mit Blick auf die relativen Aktienmarkt-Aussichten. Gewiss haben wir in vielen Ländern der Gemeinschaft einzelne Top-Unternehmen, die zu den Weltmarktführern und Innovationsvorbildern gehören, die stark sind und attraktiv für große und kleine Investoren. Dennoch würde ich Europa-Aktien als Markt insgesamt (noch) nicht hoch gewichten, sondern Stock-Picking bevorzugen.