Wenn die Börse übertreibt – Gewinne mitnehmen oder weiter laufen lassen?

12.01.20

Mein kritischer (und ewig skeptischer) Nachbar mit seinem unsinnig gemischten Aktiendepot hat sich wieder einmal gemeldet mit der Frage, ob die Börse nicht übertreiben würde: „Soll ich lieber aussteigen?“ Auch er macht sich Sorgen um die Konjunktur und wegen Nahost. Und es ist durchaus nachvollziehbar, wenn Anleger (nicht nur private) jetzt dem Markt nicht mehr trauen und bezweifeln, dass die Kurse immer neue Höchststände erklimmen werden.



In der einen oder anderen längerfristigen Betrachtung taucht mit dem Erreichen bzw. Näherrücken historischer Indexhöchststände das abschreckende Wort „Überbewertung“ wieder auf. Ich meine damit nicht die Warnungen professioneller Crash-Propheten, sondern wirklich ernst klingendes Nachdenken über die Gefahren einer „Asset Inflation“, weil überdurchschnittlich hohes Investment in den Sachwert Aktie dessen Preis über sein angemessenes Niveau hinaustreiben könnte. Ohne hier auf die Pros und Cons eingehen zu wollen – Trendfolge richtig eingesetzt verhindert katastrophale Folgen für das Depot auch im Fall von Übertreibungen, die sich als solche ja erst im Nachhinein bestimmen lassen.

Bestes Beispiel: der Neue Markt. Als Anleger nehme ich Kursübertreibungen nach oben doch gerne in Kauf (warum auch nicht) – ich darf nur den Absprung bei der Trendwende nicht verpassen! Letzteres ist den meisten Privatanlegern nach dem Gipfel vom Frühjahr 2000 widerfahren. Übrigens passt dies genau zu meiner provozierenden These, dass es wichtiger ist zu wissen, wann die Kurse steigen oder fallen, als warum sie steigen oder fallen.

Nie werde ich das Gespräch mit einem Ärzteehepaar (jenseits der 60) vergessen – es war ein extrem heißer Spätsommer-Sonntag auf einem Golfplatz im Rhein-Main-Gebiet. Es muss 2003 oder 2004 gewesen sein. Wir kannten uns nicht. Nach dem Abschlag auf einem langen Par-5 stockte das Spiel auf dem überfüllten Platz. Man kann ins Gespräch über dies und das, irgendwie auch über die Börse. Der Mediziner berichtete mir mit bitterer Miene von seinen verlustreichen Erfahrungen. Und seine Frau, eine Sportärztin, ergänzte seine Schilderung mit einigen Tränen. Was war geschehen? Der Doc, der sich nie für Börse, sondern nur für Immobilien interessiert hatte, galt bereits als Außenseiter (Unterhalten sich zwei Ärzte auf einer Party: „Guck mal unauffällig darüber – das ist der Kollege, der keine Aktien hat!“). Dann entschied er sich doch für Aktien und investierte sein freies Kapital von knapp 1 Million Euro in deutsche Aktien mit Schwerpunkt Neuer Markt. Es geschah am 10. März 2000. Auf dem historischen Gipfel des völlig überhitzten spekulativen Marktsegments. Anschließend machte er die Talfahrt der Kurse mit und verlor nach ein paar Jahren über 80 Prozent der investierten Summe.

Die Ärztin nickt weinend und schluchzt. Nachdem ich mich und meinen Beruf vorgestellt hatte, versuchte ich zu trösten, etwa so: Wenn Sie jetzt verspottet werden, weil Sie zu spät eingestiegen sind, hören Sie nicht hin! Im Kaufmännischen heißt es zwar, im Einkauf liegt der Gewinn. Doch an der Börse liegt die Herausforderung mehr im Verkauf. Der entscheidende Fehler war, dass Sie nicht Börse frühzeitig ausgestiegen sind, als der Markt kippte. Sie haben die Verluste laufen lassen statt sie zu begrenzen – in der Hoffnung, dass es irgendwann wieder aufwärts gehen muss.

Und heute? Eine vergleichbare Entwicklung mit der völlig überhitzten Börseneuphorie ist nicht in Sicht, aber die grundsätzlichen Empfehlungen bleiben: Gewinne laufen lassen, Verluste begrenzen. Wann Gewinne realisiert werden sollten, hängt von deren Ausgangspunkt, ihrer Höhe und den individuellen Zielen des Anlegers ab. Ich bekräftige aktuell meine „Bisschen-Taktik“ – einen Teil der Kursgewinne mitnehmen, aber nicht ganz aus dem Aktienmarkt aussteigen!