Die Angst der Anleger, etwas zu verpassen

 05.11.20

Wahlkrampf, Corona-Angst, Konjunkturunsicherheit – wer als Anleger trotz alledem ein Gebiet sucht, wo noch Zuversicht herrscht, braucht nur an die Börse zu gehen. Es ist wirklich erstaunlich, wie sich die führenden Aktienmärkte halten. Ich bin weitgehend der gleichen Meinung wie der onvista-Börsenfuchs (dessen Kommentare ich sehr schätze!), der gestern begründet hat, warum man die amerikanischen Wahlen abhaken und sich mehr den fundamentalen Wirtschaftsentwicklungen zuwenden sollte. Meine heutige Headline signalisiert, dass es noch einen weiteren kurzfristigen Faktor gibt, der das Anlageverhalten mitbestimmt.

Ich greife ja gerne auf alte Erfahrungen zurück, die ihre Gültigkeit (wenn auch in veränderter Form) bis heute nicht verloren haben. Dazu gehört die Beobachtung, die in einem kurzen Satz mündet: „Die Börse will weiter nach oben.“ Das sagten Händler und Makler auf dem Parkett den fragenden Börsenberichterstattern, wenn es keine ganz konkreten, aktuellen Begründungen gab – letztlich der Ausdruck von Widerstandsfähigkeit des Markts, wenn er negative Nachrichten gut verdauen konnte. Dahinter steckten einerseits längerfristige Zuversicht und zum anderen Elemente des Herdentriebs. Das gilt (bisher) auch in diesen schwierigen Zeiten.

Der Frankfurter Verhaltensforscher Joachim Goldberg bestätigt dies in seiner jüngsten Wochenumfrage: Von Risikoaversion war bei den befragten institutionellen Investoren nichts zu spüren. Denn der Börse Frankfurt Sentiment-Index zog sogar um 20 Punkte an und liegt nun auf dem höchsten Stand seit dem 11. März dieses Jahres. Dabei ist die Gruppe der Optimisten gar nicht einmal so stark gestiegen. Vielmehr ist der Anstieg im Sentiment-Index in erster Linie vormals bärisch eingestellten Investoren zu verdanken, die sich vermutlich bereits in der Vorwoche in großem Stil von ihren Engagements getrennt hatten. Die gestrige Stimmungserhebung macht deutlich, dass die Mehrheit der institutionellen und privaten Investoren offenbar mehr Angst davor hat, die nächste Aktienmarktrally zu verpassen, als vor etwaigen negativen Auswirkungen eines für längere Zeit unklaren Ausgangs der US-Wahlen.

Auch an die Covid-19-Krise und die ökonomischen Folgen der Lockdowns in der Eurozone scheint man sich vielerorts gewöhnt zu haben. Dazu kommt die Hoffnung von Analysten, dass die wieder verschärften Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung diesmal die Weltwirtschaft weit weniger treffen dürften, da die Restriktionen nicht so weitreichend sind und bis dato nur in einigen europäischen Ländern gelten. Am stärksten werden auch diesmal wieder die Sektoren Beherbergung, Freizeit und Transport unter den Einschränkungen leiden, die etwa 10 Prozent zum europäischen BIP beitragen. Industrie und Bauwirtschaft sind aktuell nicht direkt von Lockdown-Maßnahmen betroffen. Die asiatischen Länder haben pandemiebedingte Restriktionen hinter sich, in den USA sind sie nur sehr begrenzt in Kraft. Deshalb könnte es zwar in Teilen Europas zu BIP-Rückgängen im vierten

Quartal kommen, die Weltwirtschaft sollte insgesamt aber auf dem Wachstumspfad bleiben.

Und der Hick-Hack um die amerikanischen Wahlergebnisse? Die Kapitalmärkte denken jedoch direkt einige Schritte weiter: Ein weiterhin gespaltener Kongress würde die Umsetzung größerer Veränderungen verhindern. Und höhere Steuern und schärfere Regulierung könnten auch unter Präsident Biden am Senat scheitern. Natürlich ist die verzögerte Trump-Biden-Entscheidung nicht optimal für die Märkte, die lieber schwindende Unsicherheit honorieren. Da allerdings in den Medien bereits monatelang vor verzögerten Ergebnissen gewarnt wurde, fehlt dem aktuellen Szenario aber die negative Überraschungskraft. Bis die offiziellen Ergebnisse bekanntgegeben werden, ist mit lauten Diskussionen und kurzfristiger Volatilität an den Märkten zu rechnen. Es werden noch einige turbulente Tage mit aufgeregten Schlagzeilen folgen, deshalb wird der berühmte „kühle Kopf“ weiterhin entscheidend sein. Für die Kapitalmärkte ist US-Notenbankchef Powell letztlich wichtiger als der nächste US-Präsident. Und der geldpolitische Kurs ist auf beiden Seiten des Atlantiks längst klar: dauerhaft niedrige Zinsen und ein dynamisches Inflationsziel. Die Liquidität bleibt hoch. Dennoch unterstütze ich auch die Empfehlung, vorsichtshalber die Stopp-Loss-Strategie konsequent weiterzuführen.