Sind die Börsianer zu kurzsichtig?

 29.03.22

Nervös schwankende Aktienkurse, per Saldo dennoch erstaunlich solide Börsen – und das in einem historisch brisanten Umfeld mit einem Krieg im Osten Europas. Verbraucher und Anleger sind total verunsichert. Und trotzdem gilt das ABC-Prinzip „Always be cool!“ Wie passt das zusammen? Ich bekenne mich seit Jahrzehnten als hartnäckiger Optimist und erinnere gern an die strategische Langfristempfehlung für ungeduldige Aktienanleger, wonach die Anlagedauer für den Erfolg wichtiger ist als der Anlagezeitpunkt. Aktuell könnte man jedoch den Eindruck gewinnen, dass die Anleger zu kurzsichtig disponieren und nach jedem Strohhalm der Hoffnung greifen. Denn ich befürchte, dass die Weltwirtschaft länger als bisher angenommen durchgeschüttelt wird. Das gilt auch für die Geopolitik. Was unterm Strich herauskommt, ist völlig ungewiss und nicht zuletzt vom Verlauf des Ukraine-Kriegs abhängig.

Allein das Thema Inflation – von vielen Fachleuten bis zur Jahreswende 2021/22 völlig falsch eingeschätzt – wird tiefe Spurten hinterlassen. Dabei kann es aller Voraussicht nach nicht schon in der zweiten Hälfte 2022 abgehakt werden. Ebenso haben wir die Pandemie längst noch nicht überwunden. Die finanziellen Folgen des Kriegs stehen noch nicht in Europas Büchern. Allein die atemberaubende Herausforderung einer Sicherung unserer Energieversorgung wirft die bisherige Langfristplanung – auch und gerade für den Klimaschutz – über den Haufen.

Meine (Selbst-)Zweifel an einer angemessenen Weitsichtigkeit der Börsenakteure keimen besonders an Tagen wie heute. Denn es mangelt auch ohne neue Preissprünge beim Rohöl und trotz der leise Hoffnungen weckenden Gespräche der Kriegsparteien nicht an neuen Besorgnis erregenden Nachrichten.

So befürchtet die deutsche Wirtschaft schon wegen des Corona-Lockdowns in der chinesischen Metropole Shanghai schwerwiegende Folgen. Die Stimmung unter den Unternehmern ist vor dem Hintergrund des neuerlichen Lockdowns und von ohnehin gedämpften Wachstumserwartungen merklich eingetrübt. China als wichtiger Motor der Weltwirtschaft scheint ins Stottern zu geraten. Mehr noch: Die Stimmung unter den deutschen Exporteuren ist nach Ausbruch des russischen Kriegs gegen die Ukraine eingebrochen. Das Barometer für die Exporterwartungen stürzte im März auf minus 2,3 Punkte ab, nachdem es im Februar noch bei plus 17,0 Punkten gelegen hatte, teilt das Münchner Ifo-Institut mit.

Der Krieg in der Ukraine hinterlässt auch bei der Verbraucherstimmung der Deutschen deutliche Spuren und führt im März laut GfK-Konsumklimastudie zu einer erheblichen Eintrübung. Während die Anschaffungsneigung gegenüber dem Vormonat moderate Einbußen verzeichnet, brechen die Konjunktur- und Einkommensaussichten ein und verzeichnen teilweise neue Rekordtiefs nach der Finanzkrise 2009. Damit setzt sich der Abwärtstrend des Konsumklimas nicht nur fort, sondern wird erheblich beschleunigt. Ein deutlicher Anstieg der Sparneigung im März verstärkt die Abwärtsbewegung weiter. Und: Die explodierenden Energiekosten haben die deutschen Importe auch im Februar fast so kräftig verteuert wie im Rekordmonat Januar. Die Einfuhrpreise erhöhten sich um 26,3 Prozent zum Vorjahresmonat, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Im Januar hatten die Preise um 26,9 Prozent zugelegt und damit so stark wie seit Oktober 1974 zur Zeit der ersten Ölpreiskrise nicht mehr. Da sich die Ergebnisse nicht auf einen Stichtag beziehen, sondern den gesamten Monat umfassen, haben sich die aktuellen Preisentwicklungen wegen des russischen Einmarschs in die Ukraine ab dem 24. Februar noch nicht deutlich auf das Februar-Ergebnis ausgewirkt.