10.04.22
Wir brauchen Prognosen, obwohl sie keine Sicherheit verbreiten. Sie dienen als Orientierungshilfen, gerade jetzt. Woher kommt der Begriff? Wikipedia zusammenfasst: Die Prognose (altgriechisch prognosis „Vorwissen“‘ oder „Vorauskenntnis“), deutsch Vorhersage oder Voraussage, selten auch: Prädiktion (lateinisch praedicere „voraussagen“) ist eine Aussage über Ereignisse, Umweltzustände oder Entwicklung in der Zukunft. Von anderen Aussagen über die Zukunft (z. B. Prophezeiungen) unterscheiden sich Prognosen durch ihre Wissenschaftsorientierung. Zur Unterstützung Ihrer Meinungsbildung, geschätzte Anleger, habe ich aus nationalen und internationalen Marktanalysen vom Wochenende einige Auszüge zusammengestellt. Und ganz am Ende meine Prognose der Prognosen.
● Die derzeit hohen Inflationsraten waren lange Zeit vor allem Ausdruck der sehr stark gestiegenen Energiepreise, aber mittlerweile steigen die Preise auf breiter Front. Aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine wird sich dieser Preisdruck auch nicht schnell legen – im Gegenteil. Die Preise für Öl und Gas werden noch längere Zeit auf einem hohen Niveau verbleiben, folglich ist mit einer Entlastung für die Inflation von Seiten der Energiepreise nicht zurechnen.
● In den vergangenen Jahren begründete die EZB ihre Ausrichtung der Geldpolitik überwiegend nur mit der Kerninflation und dem Kreditwachstum. Im März betrug die Kerninflation 2,9 Prozent, und das Kreditwachstum lag bei 4,4 Prozent. In der Vergangenheit hätte die EZB bei einer vergleichbaren Kombination der beiden Werte den Leitzins schon jetzt auf etwa 2,5 Prozent angehoben. Bis Jahresende haben wir einen Rückgang der Kerninflation auf 2,5 Prozent und ein stabiles Kreditwachstum von 4,5 Prozent unterstellt. Natürlich ist es ein sehr vereinfachter Ansatz, und das Modell zeigte auch in der Vergangenheit große Abweichungen zum tatsächlichen Leitzins. Trotzdem kann es hilfreich sein – als eine Art Überschlagsrechnung auf einer Serviette. Denn es zeigt, dass die EZB vielleicht in den kommenden 12 Monaten den Leitzins deutlich stärker anheben muss als derzeit allgemein erwartet. Wir sehen daher nach wie vor Risiken am Anleihemarkt.
● Die erste Einschätzung des Krieges in der Ukraine durch die vom ZEW befragten Finanzmarktanalysten war bereits dramatisch: Noch nie zuvor waren die ZEW-Konjunkturerwartungen in diesem Tempo gefallen. Seither hat sich die Situation weiter verschärft: Anhaltende Kämpfe, russische Gräueltaten und neue Sanktionen haben das Risiko eines Energieembargos jenseits der Kohle wahrscheinlicher gemacht. Entsprechend ist mit einem weiteren kräftigen Rückgang der ZEW-Konjunkturerwartungen im April für Deutschland zu rechnen (am Dienstag).
●In vielerlei Hinsicht ist die Lage für die Zentralbanken höchst kompliziert: Die Volkswirtschaften haben sich von der Pandemie erholt, auf den Arbeitsmärkten gibt es wenig oder gar keinen Spielraum und die Inflation schießt auf ein lange Zeit unvorstellbares Niveau. Die Währungshüter müssen daher die geldpolitische
Straffung vorantreiben. Aber wenn sie fest auf die Bremse treten, besteht die Möglichkeit einer abrupten Wachstumsverlangsamung. Daher scheint das Risiko einer Rezession im Jahr 2023 oder 2024 zu steigen, nachdem es uns noch vor einigen Monaten sehr gering erschien. Die Marktteilnehmer erwarten für Ende 2022 US-Leitzinsen in Höhe von 2,5 Prozent und für Mitte nächsten Jahres einen Höchststand von rund 3,25 Prozent. Damit würden sie über den von der Fed als neutral angesehenen Punkt hinausgehen. Wir gehen jedoch davon aus, dass die Inflation in den kommenden Monaten aufgrund von Basiseffekten ihren Höhepunkt erreicht und dann zu sinken beginnt.
● Die russische Invasion löste einen Stagflationsschock für die Weltwirtschaft aus, wobei die USA stärker von inflationären Folgen und die Eurozone von Stagnation betroffen sein könnten. Eine Kombination aus hoher Inflation, rückläufigem Wachstum, hawkishen Zentralbanken und rasch steigenden Anleiherenditen ist ein Unternehmen aufgrund höherer Inputkosten und veränderter Konsummuster hin zu Produkten mit niedrigeren Margen zunehmend unter Druck geraten werden. Darüber hinaus könnten sich die Lieferkettenprobleme durch die chinesische Null-Corona-Strategie und die damit einhergehenden Lockdowns über die Jahresmitte hinaus ausweiten. Insgesamt hat sich das Rendite-Risiko-Verhältnis bei Aktien erheblich verschlechtert, und die Anleger müssen möglicherweise eine höhere Risikoprämie zahlen, um dies auszugleichen.
● Die Volatilität ist hoch und wird es unseren Erwartungen nach eine Weile bleiben. Die meisten Anleger haben bereits einige Anpassungen in ihren Portfolios vorgenommen und es könnten noch weitere erforderlich werden. Mit der Zeit werden sich die Märkte jedoch erholen. Langfristige Anleger sollten unserer Ansicht nach unbedingt investiert und aktiv bleiben.
● Die Tücken der Prognose: Schon zu den besten Zeiten kann das Marktverhalten extrem schwer vorhersagbar sein und selbst für erfahrene Anleger ist es schwierig, den Markt zu „timen“. Umso größer ist diese Herausforderung in einem Krisenumfeld. Wie haben sich Aktien während und kurz nach Zeiten erhöhter geopolitischer Risiken entwickelt? Die Antwort lautet: Aktien haben zwar bewiesen, dass sie sich nach dem Ende einer Krise ziemlich schnell erholen können, der Zeitpunkt dieses Endes hätte sich jedoch nur schwer voraussagen lassen, und das ist heute nicht anders. Ebenso schwierig war es, das Marktverhalten zu Beginn der Corona-Pandemie zu prognostizieren. Anleger, die ihr Engagement in Aktien und anderen Risikoanlagen wie Unternehmensanleihen im März 2020 reduzierten, um sich in sichere Anlagen zu flüchten, hätten die anschließende rasante Erholung der Finanzmärkte verpasst. Andererseits hätten Anleger, die ihre Portfolios bei Ausbruch der globalen Finanzkrise überhaupt nicht angepasst haben, mehrere Jahre gebraucht, um ihre Verluste wieder aufzuholen. Dies dürfte nicht zuletzt ein Hinweis darauf sein, dass Portfolioentscheidungen während disruptiver Ereignisse und erhöhter Marktvolatilität ein gesundes Maß an Bescheidenheit erfordern. Diejenigen, die sich einen langfristigen Anlagehorizont leisten können, sollten investiert bleiben und das große
Ganze nicht aus den Augen verlieren. Die Wertentwicklung von Aktien kann kurzfristig höchst unberechenbar sein.
Und der alte Prophet sagt: Ja, so kann es kommen! Doch ist in meinen Augen nur eines sicher: die Unsicherheit der Prognosen. Ich befürchte nämlich, dass wir im Jahresverlauf noch mehr Korrekturen von Wirtschafts- und Börsenprognosen einschließlich der Preis- und Inflationsentwicklungen erleben werden als in den vergangenen zwölf Monaten.