Der Aktienmarkt wird leichtsinnig

 01.05.22

Die Börsen bleiben wacklig, sind aber nicht wirklich schwach. Strategen der institutionellen Anleger geben sich auffallend Mühe, die unterschiedlichen Einflüsse unter einen Hut zu bringen. Gar nicht so einfach, denn bekanntlich kommt es nicht nur auf die fundamentalen Zahlen und Prognosen an, sondern auch (und oft ganz besonders) auf die Interpretation der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen im Umfeld der Märkte. Was die Analysten dazu in diesen Tagen äußern, ist eine Mischung aus allem Möglichen. Die hilft dem Orientierung suchenden Anleger allerdings kaum weiter.

Was mich überrascht, sind die teilweise harmlosen Einordnungen des Kriegs und seiner unmittelbaren Folgen. Parallel sorgten wichtige Stimmungsindikatoren aus einigen Ländern zuletzt für positive Überraschungen (nicht zuletzt der Ifo-Index für das Geschäftsklima in Deutschland. Positiv stimmt vor allem, dass sich nicht nur die Stimmung im Dienstleistungssektor dank einer Lockerung von Corona-Beschränkungen verbessert hat, auch Industrieunternehmen zeigten sich im April vielerorts besser gelaunt. Der konjunkturelle Gegenwind für die europäischen Aktienmärkte könnte damit abnehmen, sofern eine weitere Eskalation im Russland-Ukraine-Krieg ausbleibt – leider sieht es momentan nicht danach aus. Das nenne ich eine ausgewogene Bewertung. Aber sie ist wohl immer noch nicht der äußerst kritischen militär- und geopolitischen Lage angemessen.

Eine dramatische Zuspitzung wäre jederzeit dadurch denkbar, dass sich Russland dazu entscheidet, Deutschland und Europa insgesamt kein Gas mehr zu liefern. Mit Polen und Bulgarien hat Putin bewiesen, dass man bereit ist, Verträge zu brechen. Es ist nicht auszuschließen, dass genau das auch mit dem Rest Europas passiert, wenn tatsächlich noch mehr schwere Waffen an die ukrainischen Streitkräfte geliefert werden.

„Der Aktienmarkt fürchtet hohe Zinsen mehr als den Ukraine-Krieg.“ Diese Headline von Bankökonomen hat mich aufgeregt (weil ich sie anzweifle). Denn ich gehöre nicht nur zum Lager der Kriegsgegner, sondern sehe durch die russische Aggression viel mehr bedroht als unsere Gas- und Getreideversorgung: Dieser Konflikt gefährdet die Demokratie und kann sogar eine Zeitenwende einleiten. Er kann also unsere Welt verändern. Kann.

Der wohl einzige verbliebende Grund, mit dem man die vergleichsweise entspannte Reaktion der Aktienmärkte auf die aktuelle Gemengelage erklären kann, ist die insgesamt doch recht erfreuliche Entwicklung der Gewinne. Für sich genommen ist der positive Gewinntrend eine gute Nachricht, beweist er doch die erstaunlich robuste Verfassung der Wirtschaft, betonen andere Analysten. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie lange Gewinne einen derart positiven Trend aufweisen können, wenn ansonsten das gesamte makroökonomische Umfeld bewölkt ist.

PS: Zuletzt erreicht mich folgende Agenturmeldung: Wachstum in Deutschland ernsthaft in Gefahr. Ein Ende russischer Energielieferungen auch an Deutschland und damit einhergehende einschneidende wirtschaftliche Auswirkungen auf die deutsche Konjunktur sind aus Sicht deutscher Volkswirte wahrscheinlicher geworden.

„Wir stehen mit einem Bein im Blackout-Szenerio“, sagte Allianz-Volkswirtin Katharina Utermöhl in einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. Damit beschreibt sie das Szenario, das eintreten würde, wenn Energielieferungen aus Russland eingestellt würden. Die Folge wäre aus ihrer Sicht ein Wirtschaftswachstum von nur noch 0,9 Prozent im laufenden Jahr und ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um 1,4 Punkte im kommenden Jahr.

Mir kommt unser Aktienmarkt mittlerweile relativ sorglos vor. Seien Sie es nicht, geschätzte Anleger!