Die Hoffnung ist noch nicht gestorben

 30.07.22

Es ist müßig (aber interessant) zu versuchen, den Einfluss der akuten Problemkomplexe auf den Aktienmarkt genau bestimmen zu wollen. Es sind jedenfalls harte und weiche Faktoren, die den Handel kurzfristig bewegen – von Algorithmen und dem Herdentrieb bis hin zum Gewöhnungsfaktor. Dabei kann man über Monate hinweg auch Gewichtsverlagerungen beobachten, denn mal steht die Pandemie im Mittelpunkt, dann ist es die Geld- und Zinspolitik, sind es die Auswirkungen einer historisch hohen Inflation und schließlich die Rezessionsängste. Für mich bleibt der Ukraine-Krieg der Kern allen aktuellen Übels: Würde der militärische Konflikt durch diplomatische Lösungen über Nacht beendet, könnte die Welt aufatmen – auch Wirtschaft und Börsen.

Doch fällt auch den Analysten schwer, die wahrscheinlichen Entwicklungen an den Märkten und in ihrem Umfeld auszuloten. Immerhin lässt sich beobachten, dass zunehmend versucht wird, ein mittelfristig (gemeint ist hier der Verlauf einschließlich 2023) hoffnungsvolles Bild zu skizzieren. Angesichts der Flucht in die sicheren Häfen halten sich Aktien erstaunlich gut. Hier überwiegen offenbar die nachlassenden Zinsängste sowie zudem einige positive Unternehmensnachrichten. Liegt also das Tief von Dax & Co. schon hinter uns? Das Umfeld bleibt vorerst schwierig, aber es ist inzwischen bereits sehr viel Negatives eingepreist, glauben nicht nur die Strategen der Frankfurter Helaba. Denn die Aktien konnten sich in den letzten Wochen von ihren Jahrestiefstständen erholen und die Risikoaversion hat sich wieder etwas zurückgebildet. Davon profitierten die US-Indizes S&P 500 und Dow Jones Industrials mehr als der Dax.

Der für Aktien ungünstige Mix aus mehr Inflation und weniger Wachstum in den großen Industrieländern hat sich fortgesetzt. So liegen die Inflationsdaten weiterhin über den Erwartungen, während die Konjunkturdaten noch immer mehrheitlich negativ überraschen. Hierzulande ist dies u.a. abzulesen am jüngsten Rückgang beim Ifo-Geschäftsklimaindex. Dass bereits sehr viel Negatives eingepreist ist, belegt die Bewertung: Gemessen am Kurs/Gewinn-Verhältnis ist der Dax inzwischen so niedrig bewertet wie in den meisten früheren Rezessionen. Lediglich im Sog der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise (2008) und der Euro-Staatsschuldenkrise (2011) waren deutsche Standardwerte noch billiger. Indessen erweisen sich die Unternehmensgewinne als erstaunlich robust. In den USA haben schon mehr als die Hälfte der S&P 500-Mitglieder ihre Ergebnisse vorgelegt, 73 % lagen über den Erwartungen. Aus dem Dax haben erst 12 Unternehmen berichtet, 11 davon besser als erwartet. Offensichtlich gelingt es bislang, die auch jenseits von Energie gestiegenen Kosten an die Endverbraucher weiterzugeben. So sind die Gewinnmargen in den vergangenen Monaten kontinuierlich gestiegen und haben sich zuletzt auf hohem Niveau eingependelt. Entsprechend wird für die Dax-Unternehmen auf Sicht der nächsten zwölf Monate ein Anstieg der Nettoergebnisse von 6 %, für die im S&P 500 sogar von 9 % unterstellt. Auch wenn die Erwartungen in den kommenden Wochen durchaus noch etwas nach unten revidiert werden dürften, kann von einer Gewinnrezession – einem Einbruch der Unternehmensgewinne – derzeit also keine Rede sein. Die Helaba zeigt Zuversicht, wenn sie vorhersagt: Der Wachstumspessimismus vieler Marktteilnehmer dürfte bald seinen Höhepunkt erreicht haben. Da sich die Konjunkturerholung aber verzögert, haben wir unsere Prognosen für Dax und Euro Stoxx 50 nochmals reduziert. Aktien nehmen eine Konjunkturerholung allerdings rund ein halbes Jahr vorweg. Auf dem aktuellen Niveau überwiegen für mittelfristig orientierte Anleger unseres Erachtens die Chancen, auch wenn es aufgrund nur schwer zu kalkulierender geopolitischer Risiken zwischenzeitlich zu Kursrücksetzern kommen kann.

Mir fällt es schwer, geschätzte Anleger, mit dem Prinzip Hoffnung gleich eine Kaufempfehlung zu verbinden. Allein die sich abzeichnende Energiekrise mit den wahrscheinlichen weiteren Preissteigerungen droht kann eine schwere Bürde für Inflation, Konjunktur und die Bevölkerung insgesamt zu werden – und dann auch für die Börse.