Was haben die Finanzmärkte schon „eingepreist“?

 05.07.22

Wer jetzt schon wieder investiert, beweist Mut. Anleihen, Aktien, Rohstoffe – die im ersten Halbjahr durchweg schwachen Finanzmärkte signalisieren eine ungewohnte Krisenstimmung. Sind mittlerweile alle Risiken schon „eingepreist“? Professionelle Anlagestrategen machen (noch leise) Hoffnung und diskutieren zumindest über eine Bodenbildung der Kurse. Abgesehen von meinem unerschütterlichen Langfrist-Optimismus bleibe ich erst einmal skeptisch. Die in der Headline zum Ausdruck kommende Frage kann nicht – wie auch immer – beantwortet werden, denn niemand kann wissen, wie sich die kursrelevanten Einflüsse tatsächlich weiterentwickeln werden. Für mich bleibt der Krieg und seine Folgen das unsicherste (und unberechenbarste) Element – das können Börsen nicht wirklich einpreisen, also in den Kursen berücksichtigen.

Zur Erinnerung: Die Renditen von US-Staatsanleihen und der Eurozonen-Länder waren bis Mitte Juni auf Mehr-Jahres-Höchststände angestiegen – seither setzten sie deutlich zurück. Die Renditen zweijähriger Bundesanleihen sanken von in der Spitze 1,28 Prozent auf ein Tief von 0,40 Prozent, diejenigen der amerikanischen Pendants von einem Hoch bei 3,45 auf 2,75 Prozent. Der Grund: Die Marktteilnehmer richteten ihren Fokus mehr auf die an den Märkten aufkeimenden Rezessionsängste, anstelle auf die anhaltend hohen Inflationsraten. Deshalb sanken die Erwartungen an die potenziellen Leitzinserhöhungen der Fed beziehungsweise der Europäischen Zentralbank. Zwei an den Märkten eingepreiste Zinsanhebungen der Fed zu je 0,25 Prozentpunkten wurden seitdem ausgepreist. Dazu schreiben die Vordenker der Deutschen Bank: Die Gratwanderung der Notenbanken, die hohen Inflationsraten durch Zinserhöhungen einzudämmen, ohne dabei die Wirtschaft zu sehr auszubremsen, dürfte weiterhin starke Marktbewegungen zur Folge haben. Schlechte Konjunkturdaten könnten die Aktienmärkte ungewöhnlicherweise sogar stützen, da sie deutlichere Leitzinsanhebungen erschweren oder gar verhindern dürften.

Von vielen Privatanlegern unbemerkt verzeichneten die Preise für Industriemetalle im zweiten Quartal den stärksten vierteljährlichen Einbruch seit der Weltfinanzkrise 2008! Der Index der Londoner Metallbörse (LME) liegt nach einem Anstieg um 15 Prozent im ersten Quartal seit Ende März 26,5 Prozent im Minus. Anfängliche Befürchtungen, dass die Ausfuhren – insbesondere von Nickel und Aluminium – aus Russland unterbrochen beziehungsweise sanktioniert werden könnten, bewahrheiteten sich nicht. Stattdessen richtete sich der Fokus der Händler auf die Pandemiebeschränkungen in China und die aufkeimenden Rezessionsängste weltweit. Am schlechtesten hat sich Zinn entwickelt, das um fast 42 Prozent eingebrochen ist, während Aluminium um etwa ein Drittel und Kupfer um mehr als ein Fünftel gesunken sind. Es ist der erste Quartalsrückgang für den gesamten Index seit Beginn der Coronavirus-Pandemie. Mit der sich abzeichnenden Konjunkturerholung in China sollten jedoch auch die Preise der Industriemetalle Aufholpotenzial besitzen, glauben Analysten.

Vergleichsweise stabil (wenn auch blass) sind dagegen die Edelmetalle geblieben. Neue Statistiken zeigen, dass die Zentralbanken im Monat Mai die weltweiten Goldreserven insgesamt um 35 Tonnen aufgestockt haben. Dies ist der zweite Monat in Folge mit Nettokäufen, nachdem zuletzt ein Schwanken zwischen monatlichen Nettokäufen und -verkäufen zu beobachten war. Positiv auch die Zwischenbilanz der Frankfurter Börse: Der Goldbestand der börsengehandelten Inhaberschuldverschreibung Xetra-Gold (ISIN: DE000A0S9GB0) ist zum 30. Juni auf 242 Tonnen angestiegen. Zum Jahreswechsel waren es noch 237 Tonnen Gold. Xetra-Gold ist das führende physisch hinterlegte Gold-Wertpapier in Europa.

Mit Blick auf langfristige Zinstrends und Geldpolitik der Notenbanken macht auch in der Finanzwelt jetzt der Begriff „Zeitenwende“ die Runde. Dennoch stimme ich den Strategen zu, die betonen, dass sich nicht alles an den Märkten ändern wird. Wichtige Grundregeln gelten weiterhin, Beispiel: Die Erwartungen zu den zukünftigen Unternehmensgewinnen bleiben die Grundlage für die Entwicklung der Aktienkurse.