18.10.22
Vorweg: Nein, ich traue den Aktienmärkten (noch) nicht. Aber es gibt Tendenzen, die meine Einschätzung zunehmend bestätigen. So werden die führenden Schwellenländer von den Investment-Strategen immer aufmerksamer verfolgt – allen voran China und Indien. Dass Inflation und Zinspolitik im Vordergrund der Analysen bleiben, ist keine Überraschung. Doch mehren sich inzwischen die Versuche, das geopolitische Risiko stärker zu gewichten, zumal die Gefahr einer nuklearen Eskalation im Ukraine-Krieg steigt. Dem steht die These gegenüber, dass vieles mittlerweile schon eingepreist sei. Unterm Strich: Das weitere Abwärtsrisiko für die führenden Aktienmärkte wird geringer eingeschätzt, während man steigende Erholungschancen sieht. Kaum eine der zuletzt veröffentlichten Marktanalysen konkretisiert aber den zeitlichen Ablauf der Trendwende. Mit anderen Worten: Es herrscht „vorsichtige Zuversicht“, der die institutionellen Anleger aber großenteils noch nicht mutig folgen wollen.
Und so wird argumentiert: Die Schwellenländer stehen weiterhin unter Druck. Gründe dafür sind steigende Kapitalkosten, die weltweite Abnahme der Liquidität und zahlreiche externe Herausforderungen – von den negativen Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine bis hin zur schwachen chinesischen Wirtschaftsleistung. Bei AB ist man der Meinung, dass viele dieser globalen makroökonomischen Belastungsfaktoren auch in den kommenden sechs bis zwölf Monaten bestehen bleiben könnten. Nimmt man die anhaltende Stärke des US-Dollars hinzu, wird eine Entspannung an den Schwellenländermärkten in naher Zukunft noch unwahrscheinlicher.
Das letzte Quartal des laufenden Jahres könnte holprig bleiben, da sich die Zentralbanken in den entwickelten Ländern weiterhin auf ihre endgültigen Leitzinsen zubewegen. Angesichts der sich abzeichnenden Verlangsamung des globalen Wachstums und weiterer desinflationärer Signale könnte es jedoch nicht mehr lange dauern, bis sie ihre Zinserhöhungszyklen unterbrechen. In den aufstrebenden Volkswirtschaften scheinen eine Reihe von Zentralbanken ihre Zinserhöhungszyklen entweder bereits zu pausieren (Brasilien) oder kurz davor zu stehen (Chile, Kolumbien, Tschechische Republik, Ungarn und Polen). Die düsteren globalen Wachstumsaussichten könnten die Geschwindigkeit und das Ausmaß einer potenziellen Erholung bei Schwellenländeranlagen weiterhin behindern und neue Schocks könnten zusätzlichen Druck ausüben. Die Experten sind jedoch der Meinung, dass an den Schwellenländermärkten bereits ein Großteil der negativen zyklischen Dynamik eingepreist sein könnte. Gleiches gilt für die negativen strukturellen Veränderungen, die durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine ausgelöst wurden. Besonders unterstreiche ich die von mir schon seit Monaten formulierte Warnung vor den Kriegsfolgen: Der Krieg in der Ukraine ist der vielleicht größte Risikofaktor unter den ‚bekannten Unbekannten‘. Trotz einer anfänglichen Konzentration auf den Süden des Landes hat das ukrainische Militär jüngst Fortschritte in der Ostukraine gemacht und bedeutende Gebiete von den russischen Besatzungstruppen zurückerobert. Dies verdeutlicht die zunehmenden Fähigkeiten des ukrainischen Militärs – das kürzlich mit weiterer US-Ausrüstung ausgestattet wurde – sowie mögliche Versorgungs- und Moralprobleme bei den russischen Truppen. Der militärische Erfolg der Ukraine erhöht wiederum das Risiko einer Eskalation des Konflikts durch Russland.
Die chinesische Konjunkturentwicklung birgt ebenfalls Risiken für die Schwellenländer. Die schwache Wirtschaftsleistung des Landes in diesem Jahr ist weitgehend auf die Pandemiepolitik und die Schwäche des Immobilienmarktes zurückzuführen. Dieser Gegenwind könnte im nächsten Jahr zwar nachlassen. Doch selbst wenn sich das Wirtschaftswachstum in China auf eine Spanne von 5 Prozent bis 6 Prozent beschleunigen sollte, dürfte der Einfluss auf das Wachstum der Schwellenländer strukturell rückläufig bleiben.