Werden die geopolitischen Gefahren unterschätzt?

 06.11.22

Es klingt nicht gerade bullisch, wenn ein alter Börsenbulle den Kurserholungen nicht traut. Ja, ich bleibe bis auf Weiteres misstrauisch, denn mich begleitet das unangenehme Bauchgefühl, dass die Risiken des Kriegs und seiner Folgen sowie die damit (auch indirekt) verbundenen geopolitischen Spannungen unterschätzt werden. Auch die Börsianer sollten sich bewusstwerden, dass die Brennpunkte von Innen- und Außenpolitik trotz aller diplomatischen Bemühungen über Nacht global ausstrahlen und sich zu internationalen Krisen ausweiten können. Beispiele: Erdgas, Weizen. Neben dem Ost-West-Konflikt betrifft das in erster Linie unsere Beziehungen mit China, außerdem den arabischen Raum. Gleichzeitig verlieren westliche Demokratien an Stabilität – man denke nur an Großbritannien und Italien, damit an Europa, sowie an Brasilien. Und jenseits des Atlantiks stehen die Vereinigten Staaten vor einer spannenden (und vielleicht folgenschweren) Wahl.

Fast börsentäglich sieht es so aus, als ginge es hier aus dem Blickwinkel der Anleger lediglich um Randereignisse. Müssen wir nicht deshalb wütend in die Welt hinausschreien: Hört auf mit dem Menschen verachtenden Krieg in Europa, mit Aufrüstung und zunehmendem Waffenhandel – und nicht zuletzt mit Diskussionen über eine nukleare Eskalation! Marktteilnehmer und Medien beschäftigen sich lieber mit Inflation und Geldpolitik der führenden Notenbanken. So wichtig die verfügbare Liquidität und die Entwicklung von Zinsen und Inflation auch sein mögen – Konflikte und Krisen, wie wir sie jetzt beobachten können, haben das Potenzial für folgenschwere Ausbreitungen über Grenzen hinweg. Dazu kommen Hungersnöte, Wasserverknappung und Naturkatastrophen. Wo bleiben da Klima- und Umweltschutz?

In den vergangenen Tagen und Wochen deutete sich eine Trendwende an den Börsen an – ein kleiner Hoffnungsschimmer für die zuletzt stark gebeutelten Anleger. Jedenfalls sah es nach Schwächephasen immer wieder nach einem Wiederaufschwung aus. Doch kann der Aktienmarkt seinen noch brüchigen Boden festigen? Oder wird sich am Ende doch nur wieder der Abwärtstrend seit dem Frühjahr fortsetzen? Welche drei wesentlichen Gründe zuletzt für die positive Entwicklung an den Aktienmärkten verantwortlich waren und wie wahrscheinlich eine nachhaltige Kurserholung ist, erklärt Christian Jasperneite, Chief Investor Officer bei M.M.Warburg & CO, in seinem Kapitalmarkt-Kompass wie folgt: Auch wenn wir keine Glaskugel besitzen, bleiben wir dabei: Aus unserer Sicht ist der Boden beim Kursverlauf des S&P 500 – stellvertretend für die Aktienmärkte – noch nicht erreicht. Erstens halten wir die erwartete Zinssenkung seitens der Fed im Laufe des kommenden Jahres für verfrüht und sehen vor dem Hintergrund einer Inflation auf breiter Front der Gefahr von Zweitrunden-Effekten sowie eines robusten Arbeitsmarktes wenig Spielraum für eine geldpolitische Lockerung. Erst wenn die Fed ihre Rhetorik im Hinblick auf die künftige Zinsentwicklung ändert, ist das Ende des Zinsanstiegszyklus absehbar. Zweitens zeigen die Fallbeispiele, dass Bärenmärkte im S&P 500 historisch betrachtet erst nach der letzten Zinsanpassung ihr Ende gefunden haben. Und drittens rechnen wir aufgrund der abkühlenden Konjunktur und erschwerten Finanzierungsbedingungen für Unternehmen mit weiteren (nicht eingepreisten) Gewinnrevisionen nach unten.

Klingt klar, ist gut nachvollziehbar. Ich vermisse jedoch Punkt 4, um mein aktuell ungutes Bauchgefühl für Aktien zu verdrängen: Helle Signale für eine globale politische Entspannung und ein baldiges Ende des Ukraine-Kriegs.