Was Anlageexperten empfehlen:

Europas Value-Aktien bleiben wertvoll

27.04.23

An welcher Kategorie von Unternehmen sollte sich der Privatanleger am besten beteiligen – Value oder Growth? Ein ewiges Diskussionsthema unter Börsianern, wobei die Antworten auch zeitabhängig sind. Denn es gibt Phasen, da Substanzwerte im Mittelpunkt des Aktienmarkts stehen, und andere Zeitabschnitte mit typischen Wachstumswerten als Favoriten. Als Befürworter des betont langfristigen Investments plädiere ich grundsätzlich für Value-Werte. Der Anleger sollte nach meiner Einschätzung dabei nach fundamental unterbewerteten Aktien Ausschau halten, die sich zudem auch auf Wachstumskurs befinden – für die habe ich schon vor einiger Zeit den Begriff „ValGro“-Aktien erfunden. In einer aktuellen Analyse geht es um die Vorzüge der Substanzwerte in diesem Jahr.

Nachdem das Jahr 2022 eindeutig zugunsten von Value-Aktien verlaufen ist, war der Start in das Jahr 2023 deutlich herausfordernder für die günstig bewerteten Substanzwerte. „Dies ist auf drei wesentliche Faktoren zurückzuführen“, erläutert Ivan Domjanic, Kapitalmarktstratege bei M&G, und nennt folgende Gründe: Die langlaufenden Anleiherenditen sind nach dem starken Aufwärtstrend im Jahr 2022 in einen volatilen Seitwärtstrend, in den USA sogar mit leicht negativer Tendenz, übergegangen. Damit hat sich ein wesentlicher Treiber der sogenannten Value-Rotation zuletzt abgeschwächt. Die technisch überverkauften Technologie-Riesen, die in der Regel dem Growth-Segment zugeordnet werden, profitierten von einer Gegenbewegung und hatten einen großen Anteil an der positiven Aktienmarktentwicklung im laufenden Jahr.

Die Verwerfungen im Bankensektor, die mit entsprechenden Kursverlusten bei Bankaktien einhergingen, hatten deutlich größere Auswirkungen auf das Value-Segment, das eine viel höhere Gewichtung in Finanzwerten aufweist. Ähnliches gilt für den Energiesektor, der nach einem extrem starken Jahr 2022 im laufenden Jahr bislang eher zu den Nachzüglern gehört. Vor diesem Hintergrund stellt sich Investoren die Frage, ob die Value-Rotation möglicherweise bereits ausgereizt sein könnte. Hierfür wäre aus meiner Sicht jedoch eine nachhaltige Rückkehr in das alte Niedrigzinsumfeld mit entsprechend niedrigen Inflationsraten erforderlich.

Mit der Wiederkehr der Inflation haben sich das Wirtschaftsumfeld und das Verhalten der Zentralbanken nachhaltig verändert – mit dem Ergebnis, dass die Zinsen heute deutlich höher liegen als noch vor zwei Jahren und die Zentralbanken von QE (Quantitative Easing) zu QT (Quantitative Tightening) übergegangen sind. Die Zeit des billigen Geldes und der Liquiditätsschwemme, von der viele Wachstumstitel teilweise undifferenziert profitiert haben, ist nach Ansicht von Domjanic vorbei: Die einzelnen Anlagen konkurrieren wieder stärker um knapper werdendes Kapital, was den Fokus der Anleger vermehrt auf die Bewertungen und Fundamentaldaten der Unternehmen lenken dürfte.

Weiter heißt es in der Analyse: Zwar ist zu erwarten, dass die Inflation von den aktuell hohen Niveaus zunächst noch weiter absinken wird. Allerdings dürfte sie sich auf einem höheren Niveau einpendeln als wir es in den zehn Jahren nach der Finanzmarktkrise gewohnt waren. Selbst wenn die Inflation im Falle einer potentiellen Rezession zwischenzeitlich deutlicher abfallen sollte, dürfte sie spätestens nach dem Ende der Rezessionsphase aus strukturellen Gründen wieder ansteigen. Bei einer erhöhten Inflation wäre folglich auch mit erhöhten Zinsniveaus zu rechnen. Eine nachhaltige Rückkehr in ein Niedrigzinsumfeld ist daher unwahrscheinlich.

Somit stellt sich nun die Frage, wie hoch das Aufholpotenzial von Value-Aktien nach der bereits erfolgten Rotation im Jahr 2022 noch sein könnte. Hierfür bietet sich eine Betrachtung der Bewertungsabschläge von Value- zu Growth-Aktien an. Zwar ist der Bewertungsabschlag für sich genommen noch kein Auslöser für eine unmittelbare Outperformance, wie Value-Investoren in den letzten zehn Jahren schmerzhaft erfahren mussten. Auslöser dürfte vielmehr der genannte Paradigmenwechsel sein. Der Bewertungsabschlag kann jedoch als Indikation für das Potenzial einer möglicherweise bevorstehenden Outperformance herangezogen werden.

Das Fazit des Anlagestrategen mit eindrucksvollen Zahlen: Schaut man sich die Bewertungen der Value- und Growth-Segmente relativ zu ihrer jeweiligen Historie an, erkennt man schnell, dass Value-Aktien noch immer relativ günstig und Growth-Aktien teuer erscheinen. Dies trifft insbesondere auf Europa zu. So ist das europäische Value-Segment auf Basis der sogenannten Forward P/E-Ratios, also dem erwarteten Kurs-Gewinn-Verhältnis, aktuell rund 20 Prozent günstiger als im Durchschnitt der vergangenen 20 Jahre. Gleichzeitig ist das europäische Growth-Segment rund 30 Prozent teurer. Sollte mit der bereits erfolgten Normalisierung der Zinsniveaus über kurz oder lang auch eine Normalisierung der Bewertungen an den Aktienmärkten einhergehen – was nach Einschätzung von Domjanic eine logische Konsequenz ist –, würde man mit Growth-Aktien derzeit noch immer ein signifikantes Rückschlagspotenzial in Kauf nehmen. Bei Value-Aktien besteht dagegen Potenzial für eine attraktive Neubewertung.