Und jetzt? Alles ist möglich!

 03.02.22

Überall im Land wird gezweifelt, gemeckert und kritisiert. Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und weite Teile der Bevölkerung schimpfen über fehlende oder falsche Maßnahmen. Und alle beklagen, dass keine klaren Perspektiven zu erkennen seien. Wir erleben eine Ära konzertierter Unsicherheit. Zu Recht? Auch wenn sie vielleicht keinen ausreichenden Maßstab liefert, kann die Börsenentwicklung für die Meinungsbildung herangezogen werden. Nach einem (erstaunlichen) Superjahrgang 2021 hat der Auftakt 2022 am Aktienmarkt enttäuscht – doch ohne eine nachhaltige Trendwende. Die drei aktuellen Krisenkomplexe Corona, Inflation und Geopolitik haben bisher noch keine tiefen Spuren hinterlassen. Das kann noch kommen, muss aber nicht. Eine Bilanz kann erst später gezogen werden.

Das Prinzip Hoffnung ist seit einigen Tagen vor allem im Kampf gegen die Pandemie zu spüren. Obwohl die Infektionszahlen erwartungsgemäß Rekordhöhen erklimmen, rechnen prominente Wissenschaftler und Politiker damit, dass der Höhepunkt noch im Frühjahr überschritten wird. Das wäre wichtig für uns alle. Andererseits wird die Gefahr einer kriegerischen Ost-West-Eskalation (Ukraine-Konflikt) nach meinem Eindruck zumindest in der Bevölkerung eher unterschätzt.

Die Geldpolitik unserer Währungshüter liegt dagegen unter massivem Verbal- Beschuss von allen Seiten, weil der extreme Anstieg der Inflation nicht frühzeitig erkannt wurde und jetzt nicht konsequent bekämpft wird. Während die Notenbank in London wenige Wochen nach ihrer Zinswende mit einer weiteren Zinserhöhung nachlegt, hat die Europäische Zentralbank heute ihren bekannt zurückhaltenden Wartekurs bestätigt. Erst einmal. Sofort hagelte es Kritik, wie die Reaktion des Mannheimer ZEW-Professors Friedrich Heinemann: „Die Zinspolitik und Wertpapierkäufe der EZB wirken inzwischen wie aus der Zeit gefallen. Europas Zentralbank betreibt im Grunde immer noch eine Politik der Deflationsbekämpfung, obwohl Europa den stärksten Inflationsschub seit Einführung des Euros erlebt und auch die Inflationserwartungen klettern. Der EZB-Rat riskiert inzwischen, die Reputation dieser Institution ernsthaft zu beschädigen.“

Wer von Ihnen zum Lager der besonders hartnäckigen Optimisten gehört, geschätzte Anleger, wird so gelassen bleiben wie die Aktienkurse. Die selbstsicheren Bullen setzen tatsächlich auf neue Impfstoffe und Medikamente, glauben an die Vernunft von Putin und Biden (setzen also auf die Diplomatie) und vertrauen der Kompetenz unserer Zentralbank (im März können die monetären Weichen neu gestellt werden). Das würde zu solchen Analysten passen, die nach wie vor mit einem positiven Jahresverlauf rechnen, wie etwa die Strategen von UBS Asset Management: Mit steigenden Anleiherenditen haben die Aktienkurse im neuen Jahr gelitten. Wir haben allerdings keinen Grund zur Annahme, dass sich die Story der positiven Unternehmensgewinne und des wirtschaftlichen Wachstums für dieses Jahr abgeschwächt hat. Das Umfeld stimmt weiterhin: Kennziffern für die Fertigungsaktivität haben zuletzt positiv überrascht. Vieles deutet zudem darauf hin, dass China seine Geld- und Fiskalpolitik lockert, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Aktienbewertungen in Europa und Japan sind jetzt günstiger als vor der Pandemie.

Alle Indikatoren für eine gedrückte Anlegerstimmung haben ein Niveau erreicht, das eine bevorstehende Erholung andeutet.

Ganz so bullisch bin ich (noch) nicht. Mein Bauchgefühl sagt mir (was vielleicht feige klinge mag), dass in diesem Jahr alles möglich ist. Also können auch böse Überraschungen nicht ausgeschlossen werden. Mein Vorschlag: Bleiben Sie also besonders wachsam, liebe Leser, und schauen Sie lieber eine Zeit lang zu, wenn Sie ängstlich sind.

PS.: Eben knickt der zuvor stabile Dax um mehr als 1 Prozent ein.